„Mittlerweile lebe und arbeite ich seit 22 Jahren in China“, sagt Kerstin Kaehler, Leiterin des German Enterprise Centre Qingdao, in einem Interview mit der Beijing Rundschau. Rechnet man ihren ersten China-Besuch als Teilnehmerin am Schüleraustausch Hamburg-Shanghai im Jahr 1990 dazu, ist sie bereits seit über dreißig Jahren mit diesem Land verbunden, ein Zeitraum, der fast zwei Drittel ihres bisherigen Lebens einnimmt.
Kerstin Kaehler (Mitte) mit ihren Mitarbeiterinnen bei einer Besprechung in der Lobby des German Enterprise Centre Qingdao. (Foto mit freundlicher Genehmigung von Kerstin Kaehler)
Am Anfang war die Abenteuerlust
Schon als Teenager ist Kaehler voller Abenteuerlust. Sie wollte schon immer dorthin, wo es ganz anders ist. China, ein altes, fernes Land im Osten, ist also ein geeignetes Ziel.
Wenig Autos, überall Fahrräder und beengter Wohnraum, dies war ihr erster Eindruck von Shanghai in den frühen 1990er Jahren. Allerdings hielt dieser Eindruck nicht lange an. Eine kleine Veränderung hat sie noch besonders frisch in Erinnerung.
„Als ich 1995 in Nanchang in der Provinz Jiangxi Chinesisch studierte, stellte ich fest, dass es dort kaum ausländische Fast-Food-Ketten gab“, sagt Kaehler lachend. Erst einige Jahre später, als sie 2003 nochmals in Nanchang war, sah sie dort nicht nur McDonald’s und KFC, sondern auch Pizza Hut und viele andere mehr. „Warum ist mir das aufgefallen? Weil ich weiß, dass diese Ketten ganz genau das verfügbare Einkommen eines durchschnittlichen Haushalts untersuchen, bevor sie irgendwo einen Laden eröffnen. Darum sind sie mir ein inoffizieller Gradmesser für das Einkommensniveau einer Region“, erklärt sie.
Von da an ahnte Kerstin Kaehler, dass sich Chinas Wirtschaft bereits im Aufschwung befand. Und sie wollte gerne miterleben, wie das Land durch die Reform- und Öffnungspolitik immer weiter geöffnet und modernisiert wird. „Es ist ein Privileg, beim Fortschritt eines Landes dabei sein zu dürfen“, sagt Kaehler.
Abenteuerlust und die Entscheidung, sich in diesem Land niederzulassen, fasziniert von der rasanten Entwicklung Chinas und angezogen von den unzähligen damit einhergehenden Möglichkeiten, all das hat sich als prägend für Kerstin Kaehlers Chinabild erwiesen.
„Unglaubliche Leistung, die gar nicht wirklich gewürdigt wird“
Seit Kaehler 1999 ihren ersten Job in Shanghai angetreten hat, begleitet sie das Gefühl, dass sie im Vergleich zu ihren gleichaltrigen Kolleginnen in Deutschland hier in China gegen weniger Diskriminierung ankämpfen müsse und auch bessere Aussichten habe, in leitende Positionen zu gelangen. „In mittelständischen und kleinen Unternehmen war ich nie in erster Linie eine Frau, sondern immer in erster Linie ausländische Expertin“, so Kaehler. Man nehme an ihr immer als Erstes die guten Sprachkenntnisse und die Arbeitsleistung wahr, weniger ihr Geschlecht als Frau.
Während ihrer zwei Jahrzehnte in China hat Kaehler nicht nur Karriere gemacht, sondern auch den großartigen Prozess der Armutsbekämpfung in China beobachtet.
„Es ist in der Tat schade, dass diese unglaubliche Leistung, die Armutsüberwindung geschafft zu haben, gar nicht wirklich gewürdigt wird“, sagt Kaehler bedauernd. Ihrer Meinung nach konzentrierten sich westliche Medien mehr auf das, was China noch nicht geschafft habe, als auf das, was das Land erreicht und wie hart es dafür gearbeitet habe: „Wer viel im Lande reist, kann sehen, dass sogar in kleinen Dörfern Menschen WeChat nutzen, um Geschäfte zu machen und Geld zu verdienen. Diese ganzen Möglichkeiten, von denen man früher noch nicht einmal zu träumen wagte, wurden landauf, landab verwirklicht – nicht nur in den großen Metropolen und Küstenstädten.“
„Wenn man hierher kommt und sich umschaut, ist man positiv überrascht“
Nicht nur die Armutsüberwindung werde unterschätzt, meint Kaehler, die deutsche Berichterstattung über China sei zwar im Allgemeinen realistisch, aber selten objektiv und überhaupt nicht umfassend. „Weil man manchmal Objektivität mit Negativität verwechselt“, erklärt sie und fügt hinzu, dass schon Realitäten beschrieben würden, aber diese Realitäten seien nur ein kleiner Ausschnitt aus einem Gesamtbild der Gesellschaft. Zudem erregten wohlwollende Artikel in Deutschland stets Misstrauen. Aber man mache sich zu selten Gedanken darüber, dass eine negative Berichterstattung nicht automatisch objektiv sei.
„Ich finde es manchmal anstrengend, erklären zu müssen, wie und warum man in diesem Land zufrieden leben und arbeiten kann“, sagt sie. Der Erklärungsbedarf ist deshalb so hoch, weil die Mediendarstellungen über China, die ihre Freunde und Verwandten zu Hause konsumieren, sehr einseitig seien. Kerstin Kaehler ist davon überzeugt, dass viele Leute positiv überrascht sein würden, wenn sie hierher kommen und sich selbst umschauen könnten.
Dazu leistet auch Kaehler ihren Beitrag. Seit langem setzt sie sich nicht nur tatkräftig für die Wirtschaftsbeziehungen und die handelspolitische Zusammenarbeit zwischen chinesischen und deutschen Unternehmen ein, sondern stellt seit jeher ihrer Familie und den Freunden immer ein Gastzimmer in ihrer Wohnung zur Verfügung, wo immer sie auch in China gewohnt hat. „So habe ich immer die Möglichkeit, meinen ganz normalen Alltag mit ihnen zu teilen, und ihnen zu zeigen, dass China ein Land ist, in dem man im Grunde gar nicht so fremd ist.“